Wattmessung liegt im Trend. Doch ein Einsatz der komplexen Technik zur Trainingssteuerung erfordert Erfahrung und Fingerspitzengefühl. Ohne die korrekte Auswertung und Anwendung der Daten nutzt das beste System nichts. Roy Hinnen hat einen Leitfaden zur Trainingssteuerung mit Wattmesssystem entwickelt und stellt diesen in unserer Expertenrunde vor.
Wattgesteuertes Radfahren mit der Bike-Formel, 30 Sets für schnellere Bike-Splits
Ich schätze, dass bis 2018 jedes dritte bis vierte gute Fahrrad, das verkauft wird, ein Wattmessgerät hat. Die Preise für Wattmessgeräte fallen, ihre Messgenauigkeit steigt. Wenn du also langfristig denkst, beginne von heute an, in „Watt“ zu denken.
Leider sind bislang viele Athleten, die mit Wattmessgerät unterwegs sind, nach einer Saison nicht zwingend viel schneller als andere. Sie messen zwar fleißig ihre Wattleistung beim Radfahren, wissen aber nicht genau, wie sie diese Werte einsetzen und beurteilen können, um eine Leistungssteigerung zu erzielen. Oft fehlt es ihnen an konkreten Watt-Vorgaben für das Training.
Meine Wattangaben beziehen sich immer auf die Durchschnittswerte für die jeweilige Zeitdauer, inklusive „Leerzeiten“. Das ist anders als bei manchen Herstellern, die zusätzlich die Normalized Power angeben, bei der jede Stillstandszeit aus der Berechnung herausgenommen wird. Außerdem funktionieren diese Angaben nur auf relativ flachen Strecken mit einem maximalen Höhenunterschied von 200 Metern pro Stunde.
Ich bin Ende der 1980er-Jahre zum ersten Mal mit einem SRM-Wattmessgerät gefahren, habe mir dann als Triathlonprofi in den vielen Jahren die Sets notiert und deren Wirkung auf Körper und Geist mit vielen erfahrenen Coaches und Athleten besprochen. Diese Trainingssets habe ich dann nochmals überarbeitet und als Altersklassenathlet von 2009 bis 2013 erneut auf Herz und Nieren getestet. So ist über viele Jahre meine Bike-Formel entstanden.
Die Grafik zeigt ein SRM-File einer Velofahrt über 5.54h. Klar zu sehen ist, dass sich nach ca. 4.1h die rote- (Puls) und die grüne (Watt-) kurve auseinander bewegen. Nach ca. 3200 KJ baut also dieser Athlet stark ab. Das heißt, seine aerobe Kapazität liegt bei ca. 3200 KJ (Watt x Zeit). Solche Daten helfen zu verstehen, wie sich ein Athlet ein Rennen besser einteilen kann.
Wie trainierst du mit der Bike-Formel?
Bevor du mit der Bike-Formel trainierst, mache einen 60-minütigen All-out-Test. Danach fahre über zehn bis zwölf Wochen jedes Set zwei Mal. Dann weißt du, welches Set für dich funktioniert oder nicht.
Danach wählst du für deine Trainingseinheiten ein bis vier Sets aus den jeweiligen Bereichen:
- Grundlagentraining
- Laktattraining
- Koordination/Technik/Motorik
- Sauerstoffaufnahme VO2max
- Intensive Kraftausdauer
- Kraft/Motorik
Gib auf meiner Webseite den Wattwert deines All-out-Tests in die Formel ein, die dir dann mit einem Klick deine individuellen Trainingsbereiche in Watt für die einzelnen Sets berechnet. Wenn dir die 60min zu lang sind, dann mache einen 20 min All-out Test, der dann 108% von dem Wert entspricht, den du auf meiner homepage einträgst. (60min = 260 Watt sind ca. 282 in 20min)
Erkenne deine Schwächen
Die Sets werden auf der Rolle mit dem eigenen Fahrrad bzw. auf der Straße gefahren und dauern zwischen einer und fünf Stunden. Abhängig von deiner Trainingshistorie, deinem Körperbau sowie deiner mentalen Einstellung zum Radfahren hast du – auch unbewusst – Stärken und Schwächen entwickelt. Wenn du schon lange Rad fährst, ist die Chance groß, dass du dich ein wenig „veloblind“ gefahren hast. Wenn du ein Neuling bist, fehlt dir hingegen noch die Erfahrung im Training. In beiden Fällen bewirkt meine Bike-Formel, dass du konzentriert an deinen Schwächen arbeiten kannst. Ich habe die Sets den limitierenden Faktoren zugeordnet. Sicher erkennst du sofort, mit welcher „größten Schwäche“ du beginnen willst.
Die Trainingssets sind in sechs Bereiche unterteilt:
Grundlagentraining (5 Sets)
Limitierender Faktor: Du kannst bei längeren Ausfahrten die Wattzahl nicht lange genug aufrechterhalten und brichst gegen Ende der Fahrt ein. Das bedeutet, du hast einfach keine Energie mehr, um kräftig zu treten. Limitierender Faktor ist deine Fähigkeit, Fettsäuren als Energiequelle zu nutzen. Deine aerobe Kapazität muss ausgebaut werden.
Laktattraining (6 Sets)
Limitierender Faktor: Du hast Mühe mit Tempowechseln und benötigst relativ lange, bis du dich nach einem längeren Intervall erholst (kurze Sprints bis ca. 10 Sekunden sind „alaktazid“, da fällt kaum Laktat an, weil Kreatinphosphat verstoffwechselt wird. Es sind die harten Intervalle – je nach Trainingszustand Antritte zwischen 40 und 75 Sekunden –, die das Laktat stark ansteigen lassen). Dein limitierender Faktor ist der Laktatabbau. Das Laktat wird nicht schnell genug in den Energiekreislauf zurückgeführt.
Koordination/Technik-Training (6 Sets)
Limitierender Faktor: Es mangelt dir an technischen Fähigkeiten. Du fährst keinen runden Tritt und keinen sauberen Wiegetritt, mit dem du locker über dem Tretlager pedalierst. Am Berg wippst du mit dem Oberkörper hin und her. So benötigst du mehr Watt als ein Fahrer mit genau den gleichen körperlichen Parametern und dem gleichen Material. Das beeinträchtigt deine Leistung enorm (bis zu 10 Prozent Leistungsabfall)!
VO2max-Training (2 Sets)
Limitierender Faktor: Du hast Mühe, über eine längere Zeit (30–60 Min.) einen hohen Puls aufrechtzuerhalten. Du reißt ab, der Atem stockt und du musst das Tempo reduzieren. Dein Körper ist nicht in der Lage, ausreichend Sauerstoff für die aerobe Verstoffwechselung von Kohlenhydraten und Laktat bereitzustellen. Du übersäuerst. Ursachen können sein: Dein Herz ist nicht leistungsfähig genug, die Atemmuskulatur nicht angepasst, das Sauerstofftransportvermögen im Blut limitiert, dein enzymatisches System zur Bindung und Abgabe von Sauerstoff ist begrenzt, die Muskelzellen können Sauerstoff nicht ausreichend aufnehmen oder verarbeiten (z.B. limitierte Mitochondrienfunktion), etc.
Kraftausdauertraining (4 Sets)
Limitierender Faktor: Deine Form ist gut, aber du brichst am zweiten oder dritten Berg ein, weil deine Speicher leer sind. Mit diesem Training vergrößerst du deine Muskelglykogenspeicher, damit du mehr Reserven hast.
Motoriktraining (2 Sets)
Limitierender Faktor: Deine Form ist gut. Bei höheren Trittfrequenzen ist dein Tritt aber nicht mehr rhythmisch. Auch deine Sitzposition ist dann nicht mehr stabil, und du verlierst Energie durch unkoordinierte Bewegungsabläufe. Mit diesen Übungen holst du dir den letzten Schliff und verbesserst deine Bewegungsökonomie.
Aerobe Kapazität (2 Sets)
Limitierender Faktor: Das Training der aeroben Kapazität verleiht deiner Form den letzten Schliff, und du verbesserst noch einmal dein Stehvermögen. Die Sets sind so gestaltet, dass du deine Muskelglykogenreserven zunächst richtig erschöpfst, damit sich anschließend deine Speicher vergrößern und du länger und schneller fahren kannst.
Spezifisches Training (3 Sets)
Limitierender Faktor: Mit diesen drei Sets runde ich die Formel ab. Sie ist nun (Stand 2015) komplett. Aber ich forsche weiter und werde sicher noch weitere gute Ideen haben, wo die Formel ansetzen kann, damit du im Triathlon noch schneller Radfahren wirst.
Training der FatSpot-Effizienz
Gerne möchte ich noch zwei Sets vorstellen, die einige meiner Athleten im März bis April fahren. Diese sind eine Ausbaustufe, um deine Fettverbrennung zu verbessern, durch die du wiederum deine Endgeschwindigkeit und so dein Stehvermögen erhöhst. Die Sets sind mental sehr herausfordernd: Es geht zur Sache, Ziel ist die volle Erschöpfung, und zwar so schnell wie möglich. Das heißt, du sollst deine Muskelglykogenreserven erst richtig erschöpfen, damit sie anschließend umso größer werden können.
StaminaRace
10 x 60 Sek. All-out am Berg mit 437 Watt, 75knz, danach 90 Min. mit 233 Watt, 95er Kadenz,
Kurzbeschreibung
Hier wird das Pulver bewusst am Anfang des Trainings verschossen. Suche dir einen Berg und spurte Vollgas mit maximaler Wattzahl hoch, drehe oben um und rolle in 60 Sekunden wieder zurück, dann sprinte wieder hoch, insgesamt zehnmal. Wir leeren die Glykogenspeicher so rasch wie möglich, um anschließend in leicht angeschlagenem Zustand 90 Minuten an der Laktatschwelle zu fahren. Dein Körper sucht nun nach Reserven im Körper, die er für die Energiegewinnung nutzen kann.
Für wen ist dieses Set geeignet?
Das ist ein gutes Set für Athleten, die den Wettkampf zu zaghaft angehen und dann im Ziel sagen „Ich hätte eigentlich noch schneller sein können.“
Das zweite Set heisst: EnduranceRace
60 Min. mit 225 Watt, 120er Kadenz, danach 6x 8 Min. mit einer 45er Kadenz im Flachen mit 2 Min. Pause
Kurzbeschreibung
Hier gilt das gleiche Prinzip wie beim Stamina Race, aber es kommen noch deine koordinativen Fähigkeiten ins Spiel. Zuerst fährst du für 60 Minuten mit einer hohen Kadenz von 120 in der Fläche und achtest auf einen runden Tritt. Danach machst du im Flachen in Aeroposition sechs 8-Minuten-Intervalle mit einer 45er Kadenz und jeweils zwei Minuten Pause. Drücke, so hart du kannst, arbeite sauber mit den Beinen, atme gut in den Bauch.
Für wen ist dieses Set geeignet?
Zeitfahrer und Triathleten können von diesem Set viel profitieren. Das Wechseln der Kadenz und des Krafteinsatzes schult den Körper und fördert die Kraftentwicklung und Koordinationsfähigkeit. Dadurch wird der Muskel „flexibler“, und du kannst im Wettkampf besser die richtige Kadenz finden.
Fazit
Durch die Bike-Formel erhältst du eine klare Struktur für dein Training und kannst selbst herausfinden, welches Set dir was bringt. Athleten lernen also selbstständig, ihre Trainingseinheiten zu gestalten, und sie haben klare Vorgaben, ohne ständig im Labor einen Leistungstest machen zu müssen. Der Körper funktioniert nicht nur mit zwei Schwellen, einer aeroben (Laktatschwelle) und anaeroben (Laktat Steady-State)! Das ist nur ein Modell, über das diskutiert werden kann. Es gibt keine allgemeingültigen Werte, sondern individuelle Übergangsbereiche, die sich mit verschiedensten Messverfahren wie Laktat-, Spiroergometrie- und Motoriktests modellhaft nachvollziehen lassen.
Außerdem gibt es je nach Belastung unterschiedliche Mangelzustände. Am häufigsten ist Glykogenmangel bei langen Einheiten. Irgendwann ist der Zucker verbraucht, und dann wird es hart. Deswegen ist es so wichtig, in den richtigen Belastungsbereichen zu trainieren. Auch Sauerstoffmangel trainiere ich mit der Bike-Formel, wenn durch die Belastungsintensität der Bedarf höher ist als das Angebot.
Roy Hinnen praktiziert ZEN Buddhismus. Zu jeder Expertenserie gibt es abschließend eine ZEN Geschichte
Anweisung zum Lesen der ZEN Geschichten
Konzentriere dich ganz auf die Geschichte und versuche bis zum Schluss nichts zu deuten oder verstehen zu wollen. Wenn du die Geschichte gelesen hast, verweile einen Moment ohne zu denken. Doch rekapituliere gleichzeitig die Geschichte nochmals vor deinem inneren Auge. Deute nichts, du musst nichts verstehen oder belehrt werden. Wenn du Glück hast, und auf das übe hin, kommt plötzlich in dir eine Situation von deinem täglichen leben, wo du die Zen Geschichte zuordnen kannst, und aus diesem entsteht eine wichtige Frage. Versuche über Tage an der Frage dranzubleiben ohne zu antworten.
ZEN Geschichte zur BikeFormel nach Roy Hinnen
Ich habe einmal von einem alten Zen-Mönch gehört, der auf seinem Sterbebett lag. Sein letzter Tag war gekommen und er erklärte seinen Schülern, dass er an diesem Abend sterben würde. Alle seine Anhänger, Schüler und Freunde fanden sich ein. Er wurde von vielen geliebt und sie alle kamen. Von fern und nah versammelten sich die Leute. Als einer seiner alten Schüler hörte, dass sein Meister sterben würde, rannte er los zum Markt. Jemand fragte ihn: „Warum gehst du zum Marktplatz, wenn dein Meister in seiner Hütte liegt und stirbt?“ Der alte Schüler erwiderte: „Ich weiß, dass mein Meister einen speziellen Kuchen besonders mag, und ich will hingehen und ihm diesen Kuchen kaufen.“
Es war nicht leicht, den Kuchen zu finden, weil er schon lange aus der Mode gekommen war, aber gegen Abend trieb er ihn schließlich doch noch auf. Er rannte mit dem Kuchen zur Hütte. Alle hatten sich schon Sorgen gemacht. Der Meister schien auf jemanden zu warten. Er machte immer wieder die Augen auf, schaute sich um und schloss sie wieder. Und dann kam der Schüler. Der Meister sagte: „Ah, da bist du ja! Wo ist der Kuchen?“ Der Schüler holte den Kuchen hervor. Er war so glücklich, dass der Meister danach gefragt hatte. Sterbend nahm der Meister den Kuchen in seine Hand. Sie zitterte nicht. Er war schon sehr alt, aber seine Hand zitterte nicht. Jemand fragte: „Du bist schon so alt und stehst an der Schwelle des Todes. Bald ist der letzte Atemzug getan, aber deine Hand zittert gar nicht…“ Der Meister sagte: „Ich zittere nie, weil ich keine Angst habe. Mein Körper ist alt geworden, aber ich bin noch immer jung und werde jung bleiben, selbst wenn der Körper gestorben ist.“
Dann biss er in den Kuchen und begann ihn zu verspeisen. Schließlich fragte jemand: „Meister, was ist deine letzte Botschaft? Du wirst uns bald verlassen. Was sollen wir nicht vergessen?“ Der Meister lächelte und sagte: „Ah, dieser Kuchen ist köstlich!“